Schengen hat uns ein Europa ohne Grenzen gebracht. Wirklich? Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vom polnischen Szczecin nach Schwedt an der Oder und zurück. Ein Erlebnisbericht von Martin Hanf

Den 21.12.2007 werde ich so schnell nicht vergessen. Verbracht habe ich die Nacht mit hunderten Leuten am Grenzübergang Lubieszyn. Nach dem Zweiten Weltkrieg trennte er die DDR von der Volksrepublik Polen und schließlich das wiedervereinigte Deutschland vom zur Demokratie gewordenen  Polen. Mal war die Grenze durchlässiger, mal ging fast nichts mehr, wie Anfang der 1980er Jahre, als die sozialistische Führung in Ost-Berlin erst die Streiks, dann die Gründung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność und schließlich die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 misstrauisch und mit Argusaugen beobachteten. Und selbst als sich am Ende des gleichen Jahrzehnts der politische Wind drehte, gehörten Warten und Kontrollen zum langweiligen Alltag an der deutsch-polnischen Grenze. Wer das alles miterlebte, kann die Freude, vor allem vieler Polen verstehen, die sich kurz vor Weihnachten 2007 in Lubieszyn trafen, um das Ende der Grenzkontrollen zu feiern.

Selbst wenn von Zeit zu Zeit Politiker dies- und jenseits der Oder laut über die Gefahren der offenen Grenze nachdenken, sind doch viele Bewohner in der Region froh, nicht durch Grenzschranken aufgehalten zu werden. Heute gehört es zur Normalität, dass jeder, der das will, nach Stettin zum Einkaufen, zum Konzert in die Philharmonie oder in die Oper fahren kann. Genauso wie die Stettiner ohne Behinderung den Uckermünder Zoo, das Oder-Center in Schwedt oder malerischen Badeseen auf der deutschen Seite besuchen. 

Wer heute ein Auto hat, mobil und offen für den Besuch des Nachbarlandes ist, dem sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Wer allerdings auf das Auto verzichten möchte, um sich und die Umwelt zu schonen, der stößt sehr schnell an seine Grenzen. 

Stettiner Fahrrad-Vorhut 

Um zu zeigen, wie die heutige Realität im deutsch-polnischen Grenzland aussieht, habe ich deshalb den Selbstversuch unternommen von meinem Wohnort Stettin ins brandenburgische Schwedt an der Oder zu fahren, wo ich seit gut zwei Jahren arbeite. Und zurück. 

   Die Idee dazu war schon länger in mir gereift. Sicherlich hat dabei eine Rolle gespielt, dass ich eigentlich kein passionierter Autofahrer bin. Ganz im Gegenteil. Ich selbst würde mich zu den Mutigen zählen, die es früh gewagt haben, in Stettin mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Leider gleicht das Fahrradwegenetz in der polnischen Odermetropole bis heute eher einem Flickenteppich, selbst wenn sich in den letzten Jahren schon sehr viel getan hat. Für die meisten Stettiner stellt das Fahrrad aber weiterhin keine Alternative dar. Leider werden Zweiradfahrer im Verkehr von den Autofahrern oft ignoriert oder gar als Hindernis wahrgenommen. Nichtsdestotrotz gehörte mein Drahtesel zum festen Bestandteil meines Stettiner Alltags. Es war daher für mich eine schmerzhafte Umstellung, als ich mit dem Arbeitsplatzwechsel auch mein Fortbewegungsmittel austauschen musste. 

Seit gut zwei Jahren gehöre ich also zu der ständig wachsenden Gruppe von Pendlern, die sich kreuz und quer im deutsch-polnischen Grenzgebiet von ihrem Wohnort zum Arbeitsplatz mit dem Auto bewegen. Wer eine Zeitlang gependelt hat, weiß, dass man von der Autofahrerei zuweilen die Nase gehörig voll hat. Daher mein Beschluss es einmal mit den “Öffentlichen” von Stettin nach Schwedt zu versuchen. 

Endstation Schwedt

Mein Vorhaben hätte sich sicherlich leichter realisieren lassen, wenn ich im brandenburgischen Angermünde oder im vorpommerschen Pasewalk wohnen würde. Beide Orte sind mit Stettin durch eine direkte Bahnlinie verbunden. Schwedt liegt nicht auf der Trasse nach Lübeck oder Berlin. Schwedt ist Endstation, im wahrsten Sinn des Wortes. Weder fahren Züge über die Oder ins benachbarte Gryfino noch gibt es eine direkte Verbindung, die den wichtigsten uckermärkischen Wirtschaftsstandort mit Stettin verbindet. Wer in die polnische Metropole von hier aus fahren will, muss den Umweg über Angermünde nehmen. Ansonsten muss er sich in die Fahrpläne der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft vertiefen. Gesagt getan.

Vorbereitung auf das Experiment

   Und siehe da – wer suchet werdet fündig! Nach eingehender Lektüre zeigt sich, dass es doch eine Abkürzung gibt. Allerdings eine Abkürzung mit einem oder mehreren Hacken… Denn wer um 6.11 Uhr in Szczecin Gumience (ehemals Stettin-Scheune) in  den Frühzug nach Berlin steigt, der kommt um 6.46 Uhr in Passow an, von wo um 6.47 Uhr (sic!) der sogenannte Uckershuttle die Fahrgäste nach Schwedt transportiert. Diese kleine Unwägbarkeit hat mich aber nicht davon abgebracht am Vortag meiner Unternehmung die Fahrscheine am Ticketschalter in Schwedt zu kaufen. Die UVG-Mitarbeiterin hat mich zunächst etwas ungläubig angeschaut und vorsichtig nachgefragt, ob ich mir des Umsteige-Risikos bewusst sei. Aber anstatt mich von meinem Himmelfahrtsunternehmen abzuhalten, hat sie freundlicherweise alles in Bewegung gesetzt, um einen reibungsfreien Ablauf für mein Experiment zu garantieren. Ein Griff zum Telefon, kurzer Smalltalk und ausgemacht war, dass der Busfahrer bei Verspätung noch einen Moment auf den exotischen Fahrgast in Passow warten würde. Meine Wünsche für die Rückfahrt waren wohl weniger ausgefallen, weshalb ich kommentarlos für 11,30 Euro (mit Bahncard 25) meine zwei Fahrscheine ausgehändigt bekam. “Für Szczecin-Tantow brauchen Sie einen internationalen Fahrschein. Muss so sein”. Alles klar. Ticket ins Portemonaie. Ein Zurück gab es damit nicht mehr. Schon aus Prinzip nicht.  

Der Reisetag

3. März 2020. Der Wecker klingelt um 5.30 Uhr. Draußen ist es noch dunkel. 5 Grad. Nieselregen. Schnell noch einen Kaffee. Dann beginnt das Abenteuer. Mit einer Schummelei. Denn für den Weg zum Bahnhof Szczecin-Gumience nehme ich das Auto. So viel Komfort muss mein Gewissen vertragen.  Kurz nach 6 Uhr parke ich den Wagen neben dem Bahnhofsgebäude. Schnell zu den Gleisen. Die Nervosität wächst als um 6.11 Uhr kein Zug zu sehen ist. Denn klar ist – mit jeder Minute Verspätung wächst das Risiko, dass meine Fahrt in Passow endet. Doch bevor ich mich durch Untergangsszenarien deprimieren lasse, fährt der knallrote RE66 fast pünktlich in Szczecin-Gumience ein.     

   Im Zug die nächste Überraschung. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, alleine die Schönheit der uckermärkischen Landschaft genießen zu können. Weit gefehlt. Offensichtlich gibt es eine nicht unbedeutende Zahl von Polen und vor allem Polinnen, die den morgendlichen Zug nutzen, um auf Arbeit längs der Strecke Stettin-Berlin zu kommen. Über mangelndes Fahrgastaufkommen kann sich die Bahn auf jeden Fall bei diesem Zug nicht beschweren. Nach der Grenze steigen dann noch die deutschen Schüler zu. Schlaftrunken, noch zu müde, um Lärm zu machen. Draußen ist es immer noch dunkel. Die Wolken hängen tief. Es regnet weiterhin. Durch die dicken Scheiben des Regionalzugs ist nicht viel zu sehen. Auch wenn ich mit der Müdigkeit kämpfe, die Nervosität wächst mit jeder Haltestelle, die wir passieren. Erst Petershagen, dann Casekow, weiter an Schönow vorbei. Schließlich verkündet die computergesteuerte Durchsage “Passow”. Showdown!

Draußen immer noch Wiesen, ein paar Bäume, die ersten Häuser. Es kann nicht mehr weit sein. Schließlich wird RE66 langsamer, kommt zum Stehen. Knopfdruck. Die Tür geht auf. Sprint! Ums Bahnhofsgebäude herum, dann der Vorplatz und … kein Bus! 6.46 Uhr. Verdammt! 

Da stehe ich also. An der überdachten Bushaltestelle. Mein Blick richtet sich starr auf den Fahrplan. Wo zum Teufel ist der Bus? Da steht es doch – schwarz auf weiß – Abfahrt 6.47 Uhr. Verschiedene Gedanken gehen mir durch den Kopf: Ist der Busfahrer, der heute fahren sollte, vielleicht krank geworden und sein Kollege wusste nichts von dem seltsamen Passower Fahrgast? Oder hat der Fahrer mich einfach vergessen? Während ich so vor mir hin überlege, nimmt RE66 wieder Fahrt auf. Erst in diesem Moment fällt mir ein, dass ich eigentlich gar keinen Plan B habe. Was jetzt? Passow – Schwedt per pedes? Sechzehn Kilometer. Wenn man meinem Telefon Glauben schenken will dreieinhalb Stunden Fußmarsch. Ausgeschlossen. Vielleicht wieder den Zug in die Gegenrichtung nehmen und dann irgendwie weiterkommen? Oder erst einmal in den Ort gehen und schauen, ob es doch noch eine Verbindung nach Schwedt gibt? 

Passow Bahnhof

Ich stehe weiterhin mutterseelenalleine am Passower Bahnhofsvorplatz. Von Zeit zu Zeit passieren riesige Traktoren und meine Kollegen, die Berufspendler mit ihren Autos, den Bahnübergang. Mit meinen Überlegungen komme ich nicht weiter. Und dann …oh Wunder …biegt mit viel Schwung der Bus nach Schwedt auf dem Bahnhofsvorplatz ein. 10 Minuten verspätet. Berufsverkehr in Prenzlau. Ich kann mein Glück gar nicht fassen! Offenbar genauso wenig wie der Fahrer und die Schüler, die mich mit entgeisterten Blicken anstarren, als ich in den Bus steige. In diesem Moment werde ich mir bewusst, dass ich wohl ein selten gesehener Gast dieser Linie sein muss. 

Der Bus setzt sich in Bewegung. Wartet am Übergang auf einen durchfahrenden Güterzug. Passiert Passow und die gigantische PCK-Anlage. Vor dem Werksgelände der Raffinerie auf dem Parkplatz Hunderte von Autos. In diesem Moment scheint mir die Diskussion um Elektromobilität und Verkehrswende ganz fern.  

Weiter geht es nach Schwedt. Vorbei an einem leerstehenden Einkaufszentrum, modern umgestalteten Plattenbauten, Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder woanders hin. Halt an einer Schule. Der Bus leert sich. Schließlich Schwedt, Zentraler Omnibusbahnhof. Endstation. Ich habe es tatsächlich geschafft. 

Zurück nach Stettin

Für die Rückfahrt habe ich mir eine andere Route ausgesucht. Die Passow-Route fällt aus, weil die UVG die Fahrgäste nach Stettin wohl nicht auf dem Radar hatte. Da ich meine Zeit nicht damit verbringen möchte, die am Passower Bahnhof vorbeifahrenden Autos zu zählen, geht es über Gartz und Tantow wieder zurück nach Stettin. Wie sich zeigen sollte, eine in jeder Hinsicht gute Entscheidung.

Schwedt, Berliner Straße

   Zuerst aber wiederholt sich das, was schon auf der Hinfahrt meine Nerven strapaziert hat. Der Bus ist verspätet. Ansonsten das gleiche Bild. Einstieg. Schüler, die schon nicht mehr so müde sind. Kaum jemand redet. König Smartphone lenkt die Aufmerksamkeit der jungen Leute auf ihre Bildschirme oder bringt sie durch Musik zum Schweigen. Im Gegensatz dazu ist der Busfahrer neugierig und interessiert sich für den unbekannten Fahrgast. Nachdem ich ihm von meiner Unternehmung erzählt habe, erfahre ich, dass unser Buschauffeur nicht nur das Streckennetz der Uckermark bestens kennt, sondern viele Ecken Europas abgefahren hat. In der Vergangenheit war er nicht nur in Norddeutschland unterwegs, sondern kennt auch Polen gut, Stettin insbesondere. Eigentlich wollte er gar nicht Busfahrer werden, aber weil er Stress in der Armee gehabt habe, sei er zu keinem Studium zugelassen worden. Zu DDR-Zeiten sei er auch schon öfters in Stettin gewesen. “Da konnte man Sachen bekommen, die es bei uns nicht gab. “Schlaghosen, Jeansjacken und Rolling-Stones- -Platten”. Aber in den 1980er Jahren sei dann damit leider Schluss gewesen. Angesprochen auf die gegenwärtige Regierung in Warschau meint er, die polnischen Forderungen nach Reparationszahlungen seien nicht gut für die Beziehungen. Er persönlich sei zu der Überzeugung gelangt, dass der Blick zurück in Zorn nicht hilfreich sei. “Meine Eltern kommen aus Stettin, die Großeltern aus Greifenhagen (Gryfino). Die haben alles verloren. Aber auf der polnischen Seite seinen doch auch viele gewesen, die ihr Zuhause verlassen mussten.” Vor allem seinen Großeltern habe der Verlust der Heimat sehr geschmerzt. Sonntags seien sie in Mescherin am Ufer gestanden, hätten die Pommernhymne auf der Trompete gespielt und mit großer Wehmut nach Greifenhagen herübergeschaut. “Ich bin froh, dass die Grenze jetzt offen ist und die Leute vor Ort wüssten das auch zu schätzen.” In dem Moment fängt er an zu hupen, weil ein “polnischer Bürger” wohl vergessen habe, dass man bei durchgezogener Linie nicht überholen dürfe. 

   Wir unterhalten uns noch eine Weile im Bus, nachdem wir den Bahnhof in Tantow schon erreicht haben. “Da kommt Ihr Zug!” Wir verabschieden uns. “Tschüssi! Man sieht sich.” 

Der Zug ist ähnlich voll wie in der Früh. Eine Frau sammelt das Geld von ein paar Mitfahrern ein, die sich ein Brandenburg-Ticket geteilt haben, um von Berlin nach Stettin zu fahren. Keine Schüler mehr, dafür wieder viele Erwachsene, die von ihrer Arbeit in Deutschland zurück nach Polen fahren. Ich bin also nicht allein. 

Das Wetter wird nicht besser, als wir die deutsch-polnische Grenze überqueren. Aber immerhin regnet es nicht mehr und das Bahnhofsgebäude in Szczecin-Gumience ist seit heute morgen auch noch nicht schöner geworden.  

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